Bewegte Kindheit - Übergewicht vermeiden
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Bewegte Kindheit – Übergewicht vermeiden

Wie erobert sich ein Kind die Welt? Stolpernd erst, und später im Laufschritt. Bewegung ist für ein Kind von herausragender Bedeutung für seine Geschicklichkeit und Persönlichkeitsentwicklung, für das Entstehen eines positiven Selbstbildes und schließlich für seine soziale Kompetenz. Um so bedenklicher stimmt es, dass die Medien immer häufiger vor einer zunehmenden Bewegungsarmut und Verfettung unserer Kinder warnen.

Ein 15 Monate altes Mädchen, das 26 Kilo wiegt. Ein Fünfjähriger, der 130 Kilogramm auf die Waage bringt und seinen schwergewichtigen Körper nur vor sich her wälzen kann, hilflos wie eine Made, die aus ihrer schützenden Höhle gezerrt wurde.

Immer häufiger flimmern Kinderschicksale wie diese über deutsche Fernsehschirme – Erschütterung und emotionale Beteiligung beim Fernsehpublikum garantiert. Diese Bilder sollten uns aber nicht nur erschüttern; sie sollten Mahnung sein dafür, umgehend gegen Bewegungsmangel und Fehlernährung unserer Kinder vorzugehen.

Es wächst eine Generation von Übergewichtigen und Kranken heran. „Deutschlands Kinder bewegen sich zu wenig und essen falsch“. Eine amerikanische Studie das Fernsehen als Dickmacher enttarnt: Zwischen der Fettsucht (Adipositas) bei Kindern und dem täglichen Fernsehkonsum wurde ein direkter proportionaler Zusammenhang festgestellt.

Nur acht Prozent der Kinder, die weniger als eine Stunde am Tag fernsehen, erkranken an Fettsucht; es sind bereits zwölf Prozent bei einer Fernseh-Dauer von täglich zwei Stunden und 15 Prozent bei drei Stunden. Von den Kindern, die vier Stunden und mehr vor der Glotze hocken, sind 18 Prozent – also fast jedes Fünfte! –adipös.

Wesentliche Ursache des kindlichen Übergewichts ist der Bewegungsmangel, in den Kinder häufig bereits im Kindergarten hineingezwängt werden. Die Gewöhnung an eine stuhl- und tischbezogene Lebensweise wird in der Schule fortgesetzt. Der natürliche Bewegungsdrang der Kinder wird in Betreuungseinrichtungen und Schule schnell ausgebremst. Wer in die Schule kommt, muss als erstes das Stillsitzen lernen. Bewegung – Ausdruck kindlicher Lebensfreude und wichtigstes Mittel, sich die Welt anzueignen – wird dort meist als störend empfunden.

Das Übel der Kindheit: Sitzen

Schüler verbringen etwa zehn bis zwölf Stunden am Tag im Sitzen. Bereits Grundschüler sitzen im Durchschnitt 25 bis 30 Stunden pro Woche. In der Oberschule kommen zum alltäglichen Sitzzwang in der Schule etwa 30 Stunden Fernsehen pro Woche dazu – ganz zu schweigen von der Zeit, die die Jugendlichen vorm Computer verbringen. Nicht nur, dass Sitzen Bewegungsmangel bedeutet – es ist gleichzeitig auch noch die ungünstigste aller Körperhaltungen, da die auftretenden Kräfte dabei völlig einseitig auf den Organismus einwirken.

Das ruhige Sitzen in der Schule als Ausdruck von Aufmerksamkeit und geistiger Konzentration ist ein wesentlicher Risikofaktor der zunehmenden Haltungsauffälligkeiten und Rückenbeschwerden. Daraus resultierende Haltungsschwächen sind nicht nur Ausdruck motorischer, sondern vor allem auch psychomotorischer Defizite.

Der Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU e.V.) erweitert seine Aktion Orthofit um Übungen für einen starken Rücken im Schulkindalter. Ziel ist die aktive Prävention von Haltungsschäden. Online-Videos für ein Trainings- und Präventionsprogramm sind abrufbar unter: www.aktion-orthofit.de/sonderaktionen/rueckenfit.

Besonders problematisch ist der Bewegungsmangel bei Kindern, die ohnehin übergewichtig sind. In den vergangenen Jahren haben immer mehr Kinder in Deutschland Gewichtsprobleme. Dieser Aufwärtstrend spiegelt sich in den Ernährungsberichten: Jener von 1984 spricht davon, dass zwölf Prozent aller Kinder und Jugendlichen übergewichtig sind. Heutzutage bringen bereits 20 Prozent der Heranwachsenden zu viel auf die Waage. Der Anteil adipöser Kinder nimmt jedes Jahr um 0,8 Prozent zu. So hat sich die Häufigkeit der Adipositas in den vergangenen 15 Jahren mehr als verdoppelt.

Das ist um so bedenklicher, als dass aus dicken Kindern häufig auch schwergewichtige Erwachsene werden. Übergewicht und kindliche Fettleibigkeit sind ein lebenslanger gesundheitlicher Risikofaktor und treiben die Ausgaben im Gesundheitswesen in die Höhe.

Bewegungsmangel und Übergewicht können auch zu psychischen und physischen Beeinträchtigungen führen. Kinder klagen vermehrt über Schmerzen in der Wirbelsäule und den Kniegelenken. Statistiken wie für Erwachsene existieren bislang nicht – es lässt sich jedoch nicht von der Hand weisen, dass übergewichtige Kinder disponiert dafür sind, an Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen (beispielsweise Altersdiabetes), Störungen im Harnsäurestoffwechsel, Entzündungen der Gallenblase oder am metabolischen Syndrom zu erkranken. Auch das Krebsrisiko steigt mit der Zahl der Kilos. Selbst wenn die Kinder abspecken – die Gefahr, an einem dieser chronischen Leiden zu erkranken, bleibt ein Leben lang bestehen. Wir sollten es also gar nicht erst so weit kommen lassen.

Schon Kinder haben Altersdiabetes

Besonders deutlich sind die gravierenden Folgen von Bewegungsmangel und Fehlernährung am sehr starken Anstieg des Typ II-Diabetes (auch Altersdiabetes genannt) bei Kindern abzulesen. In Deutschland sind schätzungsweise 4.000 bis 6.000 Kinder daran erkrankt. Diabetes ist aber nicht nur ein persönlicher Schicksalsschlag für die Betroffenen, sondern auch eine der teuersten Krankheiten überhaupt. Einer Studie aus dem Jahr 1999 zufolge ist ein Viertel der Ausgaben des deutschen Gesundheitssystems auf Diabetes und seine Folgeerkrankungen zurückzuführen. Dabei kann gerade Altersdiabetes mit Sport und einer gesunden, ausgewogenen Ernährung vorgebeugt werden.

Eine Untersuchung an Brandenburger Kindern und Jugendlichen zehn Jahre nach der Wende hat gezeigt, dass die Zahl dicker und fettleibiger Kinder – insbesondere die der stark Übergewichtigen – zugenommen hat. Offensichtlich haben die neuen Lebensbedingungen einschließlich veränderter Ernährungs- und Essgewohnheiten in den neuen deutschen Ländern zu einem Trend der „Verfettung“ geführt, den wir aus vielen europäischen und amerikanischen Studien bereits kennen.

Diese Entwicklung ist äußerst bedenklich. Eltern fällt es häufig gar nicht auf, wenn ihre Sprösslinge zu dick sind. Dabei geht Übergewicht hat oft mit einem verminderten Selbstwertgefühl einher. Soziale Isolation und Diskriminierung wirken sich gerade in dieser Altersgruppe besonders schwerwiegend aus.

Die Weltgesundheitsorganisation hat eine Initiative für ausreichende Bewegung und gesunde Ernährung ins Leben zu rufen. Grund: Die Situation wird immer brisanter, zu viel Zucker, Fett und Salz im Essen sind bereits für 60 Prozent der jährlich 56 Millionen vermeidbaren Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs und Diabetes verantwortlich. Dabei geraten die Kinder immer stärker ins Blickfeld. Nicht nur, dass in Deutschland kaum mehr Kinder geboren werden – wie uns die Demographen vorrechnen -; die wenigen Kinder, die es noch gibt, werden auch noch immer dicker, kränker und sterben unter Umständen vor ihren Eltern.

Professor Dr. Alfred Wirth, Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, bemängelt vor dem Hintergrund dieser Entwicklung in Deutschland, „dass in der Pisa-Studie zwar intellektuelle Defizite von deutschen Kindern evident wurden, dass aber niemand darauf aufmerksam gemacht hat, dass wir ein riesiges Problem mit gesundheitlichen Aspekten bei Kindern und Jugendlichen haben.“

Die Medien widmen sich aufmerksam den Themen Übergewicht und der Fehlernährung. Präventionsprogramme zielen auf Ernährungserziehung und Verhaltensmaßnahmen. Die Verbraucherzentrale-Bundesverband e. V. (VZBV) fordert eine leicht verständliche Nährwertkennzeichnung, insbesondere für Fett und Zucker, weniger Süßigkeiten und zuckerhaltige Getränke, eine Anpassung der Werbung an die ernährungsphysiologischen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen und eine Vermittlung von Grundwissen zur Ernährung in den Schulen.

Orthopäden fordern: Mehr Sport in der Schule!

Argumente gegen den Bewegungsmangel und für eine bewegte Schule hört man allerdings kaum. Die Lebenswelt unserer Kinder unterschiedet sich erheblich von der, die unsere Großeltern als Kinder hatten. Es muss eine Aufgaben für die Schule sein, einen Gegenpol zur Sitzkultur unserer Fernseh- und Computergesellschaft zu bieten. Den Forderungen nach Bewegungserziehung im Vorschulalter, einer Förderung des Schulsportes und des Freizeitsportes für Jedermann kann auch und gerade aus orthopädischer Sicht nicht genügend Nachdruck verliehen werden.

„Also ist nichts Vorteilhafteres für die Gesundheit, als die mäßige Leibesübung: allein diese Übung, welche mit dem Alter, der Leibesbeschaffenheit und dem Geschlecht Verhältnis haben soll, muss ihre gesetzte Zeit haben und ein gewisses Maß nicht überschreiten.“ Der französische Arzt Andry hat vor mehr als 250 Jahren in seinem Werk über die „Orthopädie oder die Kunst, bey den Kindern die Ungestaltheit des Leibes zu verhüten und zu verbessern“, gewusst, wie man der allzu großen Leibesfülle abhelfen kann. Die Probleme sind bis heute die gleichen geblieben. Die drohende Erkrankung einer ganzen Generation kann vermieden werden.

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Übergewicht macht krank

Dickleibigkeit und Bewegungsmangel bleiben nicht ohne Folgen auf den heranwachsenden Körper: Kinder und Jugendliche leiden zunehmend an Erkrankungen, die früher nur Erwachsene betrafen:

  • Psychosoziale und psychiatrische Erkrankungen (z. B. Depressionen, Essstörungen)
  • Lungenerkrankungen (z. B. Asthma)
  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen (z. B. Bluthochdruck)
  • Stoffwechselstörungen (z. B. Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen, metabolisches Syndrom)
  • Magen-Darm-Erkrankungen (z. B. Gallensteine, Fettleber)
  • Fortschreitende Niereninsuffizienz (aufgrund Diabetes)
  • Hormonelle Störungen (z. B. Diabetes Typ 2, Verkümmerung der männlichen Geschlechtsorgane)
  • Schäden am Bewegungsapparat (z. B. Spreizfuß, Knicksenkfuß, Hüftschäden, vermehrte Knochenbrüche, vorzeitiger Gelenkverschleiß, Rückenschmerzen)

Autor: Prof. Dr. Fritz Uwe Niethard